[Umgang mit Unsicherheit]
Sigrid Harendza 11 Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, III. Medizinische Klinik, Hamburg, Deutschland
Leitartikel
Warum hat dieser Mann Atemnot? Steckt ein Herzinfarkt dahinter oder eine Lungenembolie? Oder ist es doch eher eine schwere Lungenentzündung oder gar Corona? Raucht er eigentlich? Oder ist er vielleicht immunsupprimiert? Welcher Test hilft am besten weiter? Erstmal Laborwerte oder lieber schnell ein Röntgenbild? Und sollte man ihm sicherheitshalber etwas zum Blutverdünnen geben, falls es doch ein Herzinfarkt ist? – Klingt wie ein Tutorium für problemorientiertes Lernen im Medizinstudium, ist aber in Wahrheit der normale ärztliche Alltag in Praxen und Krankenhäusern – und der ist voller Unsicherheit, mit der Ärztinnen und Ärzte umgehen müssen. Darüber, wie man mit solcher Unsicherheit umgeht, lernen Medizinstudierende bisher wenig. Im Gegenteil: das weit verbreitete Lernen und Prüfen mit Multiple-Choice Fragen suggeriert die Sicherheit, dass es immer eine richtige Antwort gibt. Entsteht ein Gefühl der Unsicherheit, weil beispielsweise die nächsten diagnostischen Schritte nicht eindeutig sind, kann dies bei Medizinstudierenden Stress auslösen [1]. In einer Lernumgebung, in der Studierende ständig ihr Wissen und ihre guten Noten beweisen müssen, wird Unsicherheit allerdings häufig unterdrückt [2]. Studierende entwickeln sogar Strategien um ihre Unsicherheit zu verbergen [3]. Damit professionelles ärztliches Handeln im Sinne des Rollenmodells des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Version 2.0 [https://nklm.de/zend/objective/list/orderBy/@objectivePosition/modul/200553] möglich wird, sollte auch ein professioneller Umgang mit Unsicherheit erlernt werden.
Unsicherheit tritt in zwei Erscheinungsformen auf: als aleatorische Unsicherheit, bedingt durch die nicht vorhersagbare Zufälligkeit von Ereignissen, und als epistemische Unsicherheit, die auf einen Mangel an Wissen zurückzuführen ist [4]. Letztere macht sich bei der Diskussion von Patientinnen und Patienten im Rahmen der klinischen Entscheidungsfindung bemerkbar, wenn sich die Erkenntnis Bahn bricht, dass das eigene Verständnis nicht komplett ist oder dass widersprüchliche Untersuchungsbefunde vorliegen. Statt dieses Gefühl der Unsicherheit, das dadurch zustande kommt, dass das Limit des eigenen Wissens erreicht wurde, als Ausgangspunkt für weiteren Erkenntnisgewinn zu nutzen, wird in der Medizin eher versucht, dieser Form der Unsicherheit mit Algorithmen und Checklisten zu begegnen [5]. Dies lässt Medizinstudierende – und auch Ärztinnen und Ärzte – in dem Glauben, dass sich Probleme von Patientinnen und Patienten durch strukturiertes Abarbeiten von Vorgaben lösen lassen. Es führt zwar oft nicht zu besseren Lösungen, erzeugt aber weniger Unsicherheit. Mit Hilfe einer „Toleranz von Mehrdeutigkeit“ Skala [6] oder mittels eines „Intoleranz von Unsicherheit“ Tests [7] lässt sich herausfinden, bis zu welchem Grad Personen Unsicherheit für eine Herausforderung oder für eine Bedrohung halten [5]. Dieser Unterschied hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wie gut Menschen Probleme lösen. Hinzu kommen dann noch situative Kontexte. Unter Zeitdruck wird Unsicherheit schlechter toleriert, weil man schnell zu einer Lösung gelangen möchte und dann leichter Fehler macht [5]. Sogar Expertinnen und Experten tendieren unter Stress dazu, eine ihnen vertraute Methode zum Lösen eines Problems anzuwenden und nicht weiter darüber nachzudenken, ob es eine effizientere oder schneller andere Methode geben könnte [5]. Behandlungsfehler können der Preis für solches Verhalten sein.
Um den Umgang mit Unsicherheit, die mit dem ärztlichen Arbeiten untrennbar verwoben ist, zu erlernen, brauchen wir eine Lernkultur im Medizinstudium, die es ermöglicht, Fragen zu stellen, Standunkte begründet zu diskutieren, Fehler zuzugeben und die eigene Unsicherheit zu reflektieren. Es konnte gezeigt werden, dass eine Veränderung der Toleranz von Mehrdeutigkeit bei Medizinstudierenden im Studienverlauf signifikant positiv mit einer Veränderung von Empathie assoziiert war [8]. In dieser Ausgabe berichten Schrötter et al. über die Identifizierung unterschiedlicher Empathieprofile bei Medizinstudierenden in einer Querschnittstudie [9]. Sie stellten dabei fest, dass Studierende des 9. Semesters eine Neigung zu unreflektierter, belastender Empathie zeigten und nur in einem Drittel der Fälle in der Lage schienen, ihre eigenen Emotionen angemessen zu regulieren, um sich vor emotionaler Überlastung schützen zu können. Hajduk et al. zeigen in dieser Ausgabe eine Querschnittstudie, bei der 12,4% der teilnehmenden Studierenden angaben, psychoaktive Substanzen insbesondere während der Prüfungsvorbereitung zur Leistungssteigerung oder zur emotionalen Regulation einzusetzen [10]. In einer weiteren Studie in dieser Ausgabe konnten Hahn et al. feststellen, dass Dankbarkeit einen sehr kleinen Einfluss auf Resilienz von Medizinstudierenden hat, Optimismus jedoch als vermittelnder Faktor die Resilienz von Medizinstudierenden deutlich stärkt [11].
Diese Studien zeigen interessante Ergebnisse, um die Lernkultur besser zu verstehen und bieten damit Ausgangspunkte für weitere Untersuchungen, wie professionelles Verhalten und insbesondere der Umgang mit Unsicherheit gestärkt werden könnten. Hierfür hält auch die Untersuchung von Drossard und Härtl zum digitalen Peer Mentorat in dieser Ausgabe einen interessanten Ansatz bereit. Die Autorinnen konnten zeigen, dass Medizinstudierende sich im ersten Semester durch das Peer Mentorat weniger ängstlich fühlten, sie sich selbst besser organisieren konnten und das Peer Mentorat sowohl positive Effekte auf die Peer Mentees als auch auf die Peer Mentor*innen hatte [12]. Dass interprofessioneller Kleingruppenunterricht ebenfalls neben inhaltlichen Lerneffekten auch einen Beitrag zur Lernkultur leistet, zeigt in der Studie von Schneider et al. in dieser Ausgabe bereits der Titel: „Super, was wir voneinander gelernt haben!“ [13].
ORCID der Autorin
Sigrid Harendza: 0000-0002-7920-8431
Interessenkonflikt
Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.
Literatur
[1] Lally J, Cantillon P. Uncertainty and ambiguity and their association with psychological distress in medical students. Acad Psychiatry. 2014;38(3):339-344. DOI: 10.1007/s40596-014-0100-4[2] Kennedy TJT, Regeher G, Baker GR, Lingard L. Point-of-care assessment of medical trainee competence for independent clinical work. Acad Med. 2008;83 Suppl 10:89-92. DOI: 10.1097/ACM.0b013e318183c8b7
[3] Lingard L, Garwood K, Schryer CF, Spafford MM. A certain art of uncertainty: case presentation and the development of professional identity. Soc Sci Med. 2003;56(3):603-616. DOI: 10.1016/s0277-9536(02)00057-6
[4] Kiureghian AD, Ditlevsen O. Aleatory or epistemic? Does it matter? Struct Saf. 2009;31:109-112. DOI: 10.1016/j.strusafe.2008.06.020
[5] Jackson M. Uncertain: the wisdom and wonder of being unsure. Lanham: Prometheus Books; 2023.
[6] Lietz A. Measuring Tolerance for Ambiguity: A German-language adaption and validation of the tolerance for ambiguity scale (TAS). Meas Instrum Soc Sci. 2023;5. DOI: 10.5964/miss.11211
[7] Carleton RN, Norton MAPJ, Asmundson GJG. Fearing the unknown: A short version of the Intolerance of Uncertainty Scale. J Anxiety Disord. 2007;21(1):105-117. DOI: 10.1016/j.janxdis.2006.03.014
[8] Geller G, Grbic D, Andolsek KM, Caulfield M, Roskovensky L. Tolerance for ambiguity among medical students: patterns of change during medical school and their implications for professional development. Acad Med. 2021;96(7):1036-1042. DOI: 10.1097/ACM.0000000000003820
[9] Schrötter S, Müller B, Kropp P. Comparison of empathy profiles of medical students at the start and in the advanced clinical phase of their training. GMS J Med Educ. 2024;41(1):Doc7. DOI: 10.3205/zma001662
[10] Hajduk M, Tiedemann E, Romanos M, Simmenroth A. Neuroenhancement and mental health in students from four faculties. A cross-sectional questionnaire study. GMS J Med Educ. 2024;41(1):Doc9. DOI: 10.3205/zma001664
[11] Hahn N, Brzoska P, Kiessling C. On the correlation between gratitude and resilience in medical students. GMS J Med Educ. 2024;41(1):Doc8. DOI: 10.3205/zma001663
[12] Drossard S, Härtl A. Development and implementation of digital peer mentoring in small groups for first-year medical students. GMS J Med Educ. 2024;41(1):Doc11. DOI: 10.3205/zma001666
[13] Schneider S, Anders P, Rotthoff T. “Great, what we have learned from each other!” – Bedside teaching in interprofessional small groups using the example of Parksinon’s diseas. GMS J Med Educ. 2024;41(1):Doc6. DOI: 10.3205/zma001661