[Effektivität von Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit von Pflegepersonal]
Barbara Buchberger 1Romy Heymann 1
Hendrik Huppertz 1
Katharina Friepörtner 1
Natalie Pomorin 1
Jürgen Wasem 1
1 Universität Duisburg-Essen, Lehrstuhl für Medizinmanagement, Essen, Deutschland
Zusammenfassung
Hintergrund
Dem wachsenden Anteil von Betagten und Hochbetagten an der Gesellschaft mit entsprechendem Pflegebedarf stehen älter werdende Belegschaften und Personalabbau im Pflegebereich gegenüber, in dem Beschäftigte hohen beruflichen Belastungsfaktoren ausgesetzt sind. Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) stellen eine Möglichkeit zur Verbesserung von Verhältnissen und Verhaltensweisen dar.
Methoden
In 32 Datenbanken wird eine systematische Literaturrecherche nach englisch- und deutschsprachigen Publikationen seit 1990 durchgeführt. Darüber hinaus erfolgen eine Internetrecherche und Sichtung der Referenzlisten identifizierter Publikationen. Die Literaturauswahl wird entsprechend der Ein- und Ausschlusskriterien von zwei unabhängigen Gutachtern getroffen. Datenextraktion und Evidenztabellen werden von einem Zweitgutachter überprüft sowie die Bewertung des Verzerrungspotenzials anhand des Risk of bias tool der Cochrane Collaboration.
Ergebnisse
Durch die Recherchen werden elf Interventionsstudien und zwei systematische Übersichtsarbeiten identifiziert. In drei randomisierten kontrollierten Studien (RCT) und einer kontrollierten klinische Studie (CCT) ohne Randomisierung werden Maßnahmen zur Verbesserung der physischen Gesundheit untersucht, in vier RCT und zwei CCT Maßnahmen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit sowie in einem RCT Maßnahmen zu physischer und psychischer Gesundheit. Die Dauer der Studien reicht von vier Wochen bis zu zwei Jahren und die Anzahl eingeschlossener Teilnehmer von 20 bis 345, im Median 56. Interventionen und Studienpopulationen sind überwiegend heterogen. Maßnahmen zur Verbesserung der körperlichen Gesundheit führen in drei Studien hinsichtlich von Beschwerden sowie Kraft und Beweglichkeit zu Veränderungen mit statistisch signifikanten Gruppenunterschieden. Aktive Teilnehmer an Interventionen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit können mit statistisch signifikanten Gruppenunterschieden von einer geringeren Einnahme von Analgetika, besserem Umgang mit beruflich bedingtem Stress und Arbeitsbelastungen, einer verbesserten Kommunikationsfähigkeit sowie beruflicher Weiterbildung profitieren.
Diskussion
Die überwiegend kleinen bis sehr kleinen Populationen, methodische Fehler mit einem hohen Verzerrungspotenzial und eine schlechte Berichtsqualität schränken die Aussagekraft der Studienergebnisse stark ein. Ein Vergleich der Resultate ist sowohl aufgrund der Heterogenität der Interventionsmaßnahmen und Studienpopulationen mit verschiedensten Spezialisierungen als auch infolge der unterschiedlich langen Studiendauern und Nachbeobachtungsphasen wenig sinnvoll.
Schlussfolgerungen
Weitere Forschungsarbeiten mit größeren Stichproben, ausreichend langen Studiendauern und Nachbeobachtungsphasen, einem geringeren Verzerrungspotenzial durch die Einhaltung relevanter Qualitätskriterien und mit einer besseren Berichtsqualität sind notwendig.
Schlüsselwörter
alte Menschen, Arbeitsbedingungen, Arbeitsbelastung, Arbeitsfähigkeit, Arbeitszeitregelungen, Auswirkungen von, Behandlung, betriebliche Gesundheitsförderung, Betriebsgesundheitsdienste, Beurteilung, Bevölkerungsentwicklung, CCT, CT, Demographie, Deutschland, Diagnose, EbM, Effektivität, Effizienz, Entscheidungsfindung, Ethik, evidenzbasierte Medizin, Fehlzeiten, Forschungsartikel, Gesundheit, Gesundheitserziehung, Gesundheitsfinanzierung, Gesundheitsförderung/*, Gesundheitsökonomie, gesundheitsökonomische Studien, Gesundheitspolitik, Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz/*, gutachtenbasierte Medizin, Health Technology Assessment, HTA, HTA-Bericht, klinische Studie, kontrollierte klinische Studie, kontrollierte klinische Versuche, Kosten, Kosten Effektivität, Kosten und Kostenanalyse, Kostenanalyse, Kosteneffektivität, Kosten-Effektivität, Kostenkontrolle, Kostenminimierung, Kosten-Nutzen-Analyse, Kostenreduktion, Kostensenkung, Krankenpflegepersonal/*, Krankenpflegepersonal/*Psychologie, Krankenpflegepersonal/*Standard, Krankheitsentstehung, Krankheitskosten, medizinische Beurteilung, medizinische Bewertung, medizinische Technologie, Mensch, Metaanalyse, Meta-Analyse, Methoden, Methodik, Modelle, ökonomische, Ökonomie, Ökonomie, ärztliche, ökonomischer Aspekt, Pathogenese, Peer review, Pflege, Pflegepersonal, Pharmaökonomie, physische Gesundheit, Placebo, Placeboeffekt, Plazebo, Prävention, primäre Prävention, psychische Gesundheit, randomisierte klinische Studie, randomisierte kontrollierte Studie, randomisierte Studie, randomisierte Zuordnung, randomisierter Versuch, Randomisierung, RCT, Recht, Reha, Rehabilitation, Risikoabschätzung, Risk of bias tool, Salutogenese, Sensitivitä, sozialökonomische Faktoren, Sozioökonomie, sozioökonomische Faktoren, sozio-ökonomische Faktoren, Spezifität, systematische Übersicht, Technikfolgen-Abschätzung, biomedizinische, Technologie, Technologie, medizinische, Technologiebeurteilung, Technologiebewertung, Therapie, Übersichtsarbeit, Übersichtsliteratur, verblindet, Verblindung, verhaltensorientiert, verhältnisorientiert, Vorsorge, Wirksamkeit, Zufall
Kurzfassung
Einleitung
Die betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) ist ein gesetzlich verankerter Teil der Prävention. Sich stetig ändernde Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt, wie die Globalisierung, die wachsende Verbreitung neuer Informationstechnologien, und Veränderungen in den Beschäftigungsverhältnissen, wie bspw. Befristungen, Teilzeit- und Telearbeit, wirken sich auf die Arbeitsfähigkeit der berufstätigen Bevölkerung aus.
Das Umfeld der Beschäftigten in der Pflege wird sich in den kommenden Jahren massiv ändern. Dem wachsenden Anteil von Betagten und Hochbetagten an der Gesellschaft mit entsprechendem Pflegebedarf stehen älter werdende Belegschaften und Personalabbau im Pflegebereich gegenüber, sodass Beschäftigte hohen beruflichen Belastungsfaktoren ausgesetzt sind.
Neben dem Phänomen alternder Belegschaften und dem demografischen Wandel gehen mit dem Dienstleistungsberuf „Pflege“ insbesondere physische und psychische Belastungen einher. Belastungsfaktoren pflegerischer Tätigkeiten sind unter anderem Schichtdienste, die gegen den natürlichen Biorhythmus des Menschen wirken, Überstunden, das Nicht-Einhalten von Pausenzeiten sowie das Mobilisieren, Heben und Tragen von Patienten. Weitere Belastungen für die Pflegekräfte und eine Herausforderung bei dem Versuch, Familie und Beruf zu vereinbaren, stellen das Arbeiten gegen soziale Zeitstrukturen und unflexible Arbeitszeitgestaltung dar.
Diese Beanspruchung zeigt sich nicht nur in überdurchschnittlichen Krankenständen bei Versicherten aus Pflegeberufen, sondern auch bei den Frühinvaliditätsdiagnosen sind diese Berufsgruppen stark vertreten.
Vor dem Hintergrund der sich verändernden Rahmenbedingungen ist in Bezug auf die Gesundheit der Pflegekräfte ein Umdenken erforderlich. Maßnahmen der BGF stellen eine Möglichkeit zur Verbesserung von Verhältnissen und Verhaltensweisen dar.
Forschungsfragen
- Welche Maßnahmen der BGF dienen nachweislich und kontinuierlich zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit von Pflegepersonal?
- Welche Kosten verursachen Maßnahmen der BGF zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit von Pflegepersonal?
- Welche Maßnahmen der BGF zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit von Pflegepersonal gehen nachweislich mit ökonomischem Nutzen für die Arbeitsgeber und die Gesellschaft einher?
- Wie ist die Kosteneffektivität von Maßnahmen der BGF zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit von Pflegepersonal?
- Welche ethisch-sozialen und juristischen Aspekte spielen für Maßnahmen der BGF zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit von Pflegepersonal eine Rolle?
Methodik
Eine systematische Literaturrecherche nach englisch- und deutschsprachigen Publikationen seit 1990 wird in 32 Datenbanken durchgeführt: MEDLINE, EMBASE, AMED, BIOSIS Previews, MEDIKAT, Cochrane Library – Central, gms, SOMED, CAB Abstracts+CAB, ISTPB + ISTP / ISSHP, ETHMED, GLOBAL Health, Deutsches Ärzteblatt, EMBASE Alert, SciSearch, CCMed, Social SciSearch, Karger-Verlagsdatenbank, Thieme-Verlagsdatenbank, Derwent Drug File, IPA, gms Meetings, DIQ-Literatur, HECLINET, Hogrefe-Verlagsdatenbank und Volltexte, Thieme-Verlagsdatenbank PrePrint, Krause & Pachernegg Verlagsdatenbank. Speziell nach HTA-Berichten, systematischen Reviews und gesundheitsökonomischen Evaluationen wird in den Datenbanken der Cochrane-Library (CDSR93), NHS-CRD-DARE (CDAR94), dem International Network of Agencies for Health Technology Assessment NHS-CRD-HTA (INAHTA), des National Health Service in Großbritannien NHSEED und der HTA-Datenbank (HTA = Health Technology Assessment) der Deutschen Agentur für Health Technology Assessment (DAHTA) gesucht. Darüber hinaus erfolgt eine Internetrecherche und Sichtung der Referenzlisten identifizierter Publikationen.
Die identifizierte Literatur wird von zwei unabhängigen Gutachtern hinsichtlich der Thematik sowie der festgelegten Ein- und Ausschlusskriterien kontrolliert. Eingeschlossen werden vollständige Studien zu Maßnahmen der BGF bei examiniertem Pflegepersonal zur Beantwortung der Fragestellungen. Datenextraktion und Evidenztabellen überprüft ein Zweitgutachter sowie die Bewertung des Verzerrungspotenzials anhand des Risk of bias tool der Cochrane Collaboration. Die Überprüfung und Bewertung der methodischen Qualität der Studien erfolgen anhand von anerkannten methodischen Standards der evidenzbasierten Medizin.
Ergebnisse
In die Bewertung werden elf Interventionsstudien in 16 Publikationen zu Maßnahmen der BGF für Pflegepersonal sowie zwei systematische Übersichtsarbeiten identifiziert.
In drei randomisierten kontrollierten Studien (RCT) und einer kontrollierten klinischen Studie (CCT) ohne Randomisierung werden Maßnahmen zur Verbesserung der physischen Gesundheit untersucht, in vier RCT und zwei CCT Maßnahmen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit sowie in einem RCT Maßnahmen zu physischer und psychischer Gesundheit.
Die Studiendauer liegt bei vier bis 24 Monaten. Die Studienpopulation umfasst insgesamt 20 bis 345 Teilnehmer, im Median 56 Teilnehmende. Interventionen und Studienpopulationen sind überwiegend heterogen.
In den Studien mit Maßnahmen zur Verbesserung der physischen Gesundheit werden praktische Übungen, wie Koordinations-, Kraft- und Dehnübungen bzw. Aerobic oder andere standardisierte Trainingsprogramme, angeboten, aber auch theoretische Anleitungen und Schulungen, z. B. zu Körpermotorik, zu Bewegungsabläufen, zum Gebrauch ergonomischer Hilfsmittel oder Anweisungen für weiterführendes körperliches Training. Als Maßnahmen der BGF zur Verbesserung der psychischen Gesundheit wird eine Bandbreite von verschiedensten Interventionen durchgeführt, die von der Vermittlung von Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stress oder Konflikten, über Schulungen in der Kommunikationsfähigkeit und zu Problemlösungsstrategien, Förderung von Erfahrungsaustausch zwischen Mitarbeitern bis hin zur Umsetzung von Methoden der individualisierten Pflege reicht.
Maßnahmen zur Verbesserung der körperlichen Gesundheit führen in drei Studien hinsichtlich von Beschwerden sowie Kraft und Beweglichkeit zu Veränderungen mit statistisch signifikanten Gruppenunterschieden. Der Konsum von Analgetika sinkt in einer Studie nach vier Monaten, ebenso die wahrgenommenen Einschränkungen bei Haushalts- und Freizeitaktivitäten.
Aktive Teilnehmer von Interventionen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit können mit statistisch signifikanten Gruppenunterschieden von einer geringeren Einnahme von Analgetika, besserem Umgang mit beruflich bedingtem Stress und Arbeitsbelastungen, einer verbesserten Kommunikationsfähigkeit und beruflicher Weiterbildung profitieren. In den Ergebnissen einer Studie, deren Population auf einer onkologischen Station beschäftigt ist, können nach drei Monaten der Intervention Veränderungen hinsichtlich einer positiveren Einstellung gegenüber Krebserkrankungen, Patienten, Kollegen und sich selbst festgestellt werden. Ein theoretisches und praktisches psychosoziales Interventionstraining bei Pflegepersonal für forensische Psychiatrie führt zu einer verbesserten Einstellung gegenüber Patienten. In dieser Studie können ebenfalls ein Zuwachs an Kenntnissen über schwerwiegende mentale Krankheiten und signifikante Verbesserungen in der Reduktion von Burnout verzeichnet werden. Eine reduzierte Häufigkeit im Auftreten von Burnout nach einem Jahr systematischer klinischer Supervision wird auch für die Interventionsgruppe einer Studienpopulation festgestellt, die mit der Betreuung und Pflege von Demenzpatienten beschäftigt ist. Durch die Interventionsmaßnahmen können ebenfalls deutliche Verbesserungen in der Zufriedenheit der Teilnehmer sowie in der selbsteingeschätzten Kompetenz erreicht werden.
In der Studie mit Maßnahmen der BGF zur Verbesserung der physischen und psychischen Gesundheit können Pflegekräfte an einer neun Monate dauernden Intervention teilnehmen. Bei Studienende wird im Vergleich zur Kontroll- in der Interventionsgruppe eine signifikante Verbesserung in der subjektiv wahrgenommenen Gesundheit, physischen Fitness und Arbeitssituation festgestellt. Darüber hinaus haben ihre Mitglieder weniger Muskelschmerzen, können mit Stress besser umgehen und ihre eigene Gesundheit besser erhalten.
Eine Zusammenfassung der Ergebnisse ist aufgrund spezifischer Arbeitsbelastungen in den verschiedenen Arbeitsbereichen der Studienpopulationen nicht sinnvoll.
Die Autoren einer Übersichtsarbeit kommen zu dem Ergebnis, dass zur Reduktion muskuloskeletaler Verletzungen Interventionen, die hauptsächlich auf technischem Training basieren, ungeeignet sind und alternative Strategien in Erwägung gezogen werden sollten. Die Autoren der zweiten Übersichtsarbeit berichten, dass Trainingsmaßnahmen und Fortbildungen allein nicht für einen Rückgang muskuloskeletaler Symptome ausreichen. In Kombination mit Interventionen zur Vermittlung ergonomischer Techniken, z. B. dem Einsatz mechanischer oder anderer Hilfsmittel, kann eine Verringerung muskuloskeletaler Symptome erreicht werden. Vorzugsweise sollten multifaktorielle Interventionen im Berufsalltag stattfinden.
Diskussion
Vor dem Hintergrund der überwiegend kleinen bis sehr kleinen Studienpopulationen und einem als hoch einzustufendem Verzerrungspotenzial insbesondere durch fehlende Angaben zum Concealment der Gruppenzuteilung sowie durch eine fehlende Verblindung sind die Studienergebnisse nur eingeschränkt aussagekräftig.
Darüber hinaus ist ein Vergleich der Ergebnisse sowohl aufgrund der unterschiedlich langen Studiendauern zwischen vier und 24 Monaten als auch infolge der Bandbreite verschiedenster Interventionsmaßnahmen und Studienpopulationen mit unterschiedlichen Spezialisierungen und Belastungen nicht möglich.
Ebenso ist die Berichtsqualität in den Publikationen überwiegend schlecht bis sehr schlecht. Trotz intensiver Kommunikation mit den Autoren der Studien können in einigen Fällen Fragen hinsichtlich der Interventionen, der Anzahl ein- und ausgeschlossener sowie ausgewerteter Teilnehmer und in Bezug auf eingesetzte Erhebungsinstrumente nicht vollständig geklärt werden.
Schlussfolgerung/Empfehlungen
Der vorliegende HTA-Bericht kann lediglich eine Übersicht der vorhandenen Evidenz zu Maßnahmen der BGF zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit von Pflegepersonal bieten. Er ist vielmehr als Synopse denn als Nutzenbewertung anzusehen. Weitere Forschungsarbeiten mit größeren Stichproben, ausreichend langen Studiendauern und Nachbeobachtungsphasen, einem geringeren Verzerrungspotenzial durch Einhaltung relevanter Qualitätskriterien sowie mit einer besseren Berichtsqualität sind notwendig.