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Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

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Nachruf
Humanmedizin

Nachruf auf Prof. h. c., Dr. med. et phil., Master of Public Health Robert Wiedersheim (1919 – 2005)

 Wilhelm Rimpau 1

1 Park-Klinik Wei?ensee, Abteilung Neurologie, Berlin, Deutschland




Schlüsselwörter

Nachruf, Robert Wiedersheim

Nachruf

Prof. h. c., Dr. med. et phil., Master of Public Health Robert Wiedersheim [Abb. 1] (1919 - 2005), ein Weltenb?rger und Pionier der ?rzteausbildung.

Abbildung 1: Prof. h.c., Dr. med. et phil., Master of Public Health Robert Wiedersheim (1919-2005)

Noch im Rollstuhl sitzend hackte er unerm?dlich Holz f?r das Kaminfeuer seines letzten Domizils im winzigen Bauernhaus in Weipertshausen am Starnbergersee, assistiert von seinen zwei jungen Kindern. So erinnern ihn Freunde aus den letzten Jahren. Am 9. Januar 2005 ist Robert Wiedersheim an den Folgen eines schweren Diabetes gestorben.

Sein B?ro, eher ein Wohnzimmer als eine Amtstube, schm?ckt ein Poster mit der Abbildung junger dressierter Sch?ler der wilhelminischen Kaiserzeit in Schuluniform mit dem Spruch: "Wir sind die Sch?ler von heute, die in Schulen von gestern, von Lehrern von vorgestern, mit Methoden aus dem Mittelalter, auf die Probleme von ?bermorgen vorbereitet werden". Daneben h?ngt eine Weltkarte mit etwa 80 Stecknadeln und unterschiedlich farbigen F?hnchen, die ?ber die Welt verteilt all jene inzwischen etablierten oder im Aufbau befindlichen "Medizinschulen" markieren, mit denen er verbunden ist und die zu den Reformfakult?ten der letzten 40 Jahre z?hlen. Der junge Studienbewerber in Witten/Herdecke, der in dieser "Wohnstube" empfangen wird, fragt schlie?lich, ob er denn nun auch den Dekan sprechen k?nne. Bisher hatte er einen m?chtigen Zahn eines Walfisches beschreiben und identifizieren m?ssen, den Robert als Troph?e aus seiner Zeit als Walf?nger in S?dafrika aufbewahrt. War dem erstaunten angehenden Mediziner das Thema zu ungem?tlich, konnte er sich mit Robert auch ?ber Musik unterhalten, nicht selten probieren beide auf dem in der Ecke stehenden Cello.

Sein Gro?vater war der Freiburger Anatom Robert Ernst Eduard Wiedersheim (1848-1923) verheiratet mit einer Genuesin, deren Familie urspr?nglich aus der Bodenseeregion stammte. Sein Vater Walter war Allgemeinarzt in Lindau, seine Mutter, geborene Bless stammte aus Belgien, ihre Familienwurzeln liegen in Tours in Frankreich. Roberts Weltl?ufigkeit ist ihm in die Wiege gelegt. Am 14.4.1919 wird Robert Wiedersheim geboren. Seine Kindheit verbringt er in Kressbronn und Bad Schachen am Bodensee, dem Heimatort seiner gro?m?tterlichen Familie Gruber. Er besucht kurz die Internatsschule Salem, wo er sich offenbar ungl?cklich f?hlt und nur schwer in das Reglement einordnet. So legt er in Freiburg das Abitur ab. Mit dem Vater bereist er Italien. In Freiburg studiert er wenige Semester Chemie bis er zum Arbeitsdienst in der Oberpfalz eingezogen wird. Er folgt schlie?lich einer Empfehlung, dass ?rztekinder besser Medizin studieren sollten, um nicht zum Milit?r eingezogen zu werden. Nach den ersten Semestern in Freiburg studiert er in Prag, dorthin abkommandiert. Um nicht als "Kanonenfutter" verheizt zu werden, t?rmt er vor den anr?ckenden russischen Truppen 1945 nach Arlberg und schlie?lich zur?ck zum Bodensee. Er arbeitet als Krankenpfleger im Lindenberger Krankenhaus im Allg?u, bis er in franz?sischer Gefangenschaft in einem Lager als Arzt (sic) eingesetzt wird. Er fl?chtet aus diesem Lager und schlie?t sein Medizinstudium 1945 in Freiburg ab. Wenn Robert uns von seiner Kindheit, Schul- und Studienzeit in den Wirren der 20 bis 40er Jahre erz?hlt, so tritt uns ein junger Mensch entgegen, der sich nicht sonderlich von Autorit?ten beeindrucken lie? und immer wieder irgendwelche Schlupfl?cher gefunden hat, seinen Weg zu gehen.

Apropos Erz?hlung: auch dieser Epilog basiert fast ausschlie?lich auf Erz?hlungen aus seinem Munde, seiner Familie, Kollegen und Freunde. Wiedersheim hat praktisch keine Dokumente hinterlassen. Wir kennen wenige Ver?ffentlichungen und nicht das ?bliche Curriculum vitae, wie es etwa J. Steiger zum Tode von Hannes Pauli, einem engen Freund von Wiedersheim, vorlag (Med. Ausbild. 2004, 21, 46-48). Wie f?r viele Stationen seines beruflichen Lebens so mag auch der Beginn seiner Wittener Arbeit als Dekan f?r ihn charakteristisch sein. Als Pension?r der WHO hatte er die B?rokratie in der Akademie f?r ?ffentliches Gesundheitswesen satt, las von der Gr?ndung der ersten privaten Universit?t Witten/Herdecke in der Zeitung, fuhr dorthin, traf den Gr?ndungspr?sidenten Gerhard Kienle und besiegelte 1982 per Handschlag den Eintritt in die Medizinische Fakult?t, der er bis 1990 als Dekan vorstand. Im Universit?tsarchiv findet sich weder ein Arbeitsvertrag noch irgendein Dokument, welches ?blicherweise Bewerbungsunterlagen entsprechen k?nnte. So erging es uns auch mit der Verwaltung der WHO in den U.S.A., Genf und Kopenhagen, wo Wiedersheim ?ber Jahre t?tig war: er hat wenig nachlesbare Spuren seines ?ffentlichen Auftretens hinterlassen - aber Menschen, die angeregt und begeistert von ihrem Freund, Lehrer und Weggenossen berichten k?nnen. Charles Engel, London, seit 1958 mit Wiedersheim bekannt, bereitete das erste Problem-Based Learning Curriculum der s?dlichen Hemisph?re in einer der vorbildlichsten Reformfakult?ten in Newcastle in Australien vor und wandte sich 1977 an den Chief Medical Officer for Medical Education at the European Office der WHO Robert Wiedersheim. Er erhielt von ihm 2571 Papiere und Literaturstellen mit pers?nlichen Notizen vom Zeitraum 1946 bis 1955 ("specimen copy - not for sale") zur Erarbeitung eines Ausbildungskonzepts. Als der Autor im Auftrag der Fakult?t in Witten 1994 zu Recherchen an nordamerikanischen Fakult?ten Besuche machte, war seine Empfehlungsliste (einem Who is Who in der Ausbildungsreform) durch Robert pr?pariert und jedes Gespr?ch mit einem seiner alten Weggenossen begann mit der Frage nach Roberts T?tigkeit und Wohlergehen.

Der berufliche Werdegang beginnt 1945 als Assistent am Institut f?r Pharmakologie und Physiologie in Freiburg, wo er zum Dr. med. und Dr. phil. promoviert. 1952 wechselt er an das pharmakologische Institut der Universit?t in Kapstadt, S?dafrika. Als Associate Professor geht er 1959 an die George Washington University Washington D. C., wo er sein Internship macht und im September 1960 Angestellter der WHO wird. Jetzt beginnt seine eigentliche Bem?hung um die Reform des Medizinstudiums. In Haiti (September 1960 bis September 1962 Port au Prince) und der Dominkanischen Republik (September 1962 bis September 1964 Santo Domingo) werden medizinische Fakult?ten durch die WHO gef?rdert und Wiedersheim ist verantwortlich f?r die Entwicklung der Lehrpl?ne. Vom Oktober 1964 bis Dezember 1972 ist Wiedersheim bei der WHO in Genf stationiert, unterbrochen durch einen Studien- und Lehraufenthalt an John Hopkins School of Public Health 1965/66 und einen mehrmonatigen Studienaufenthalt (P?dagogik) in Paris. Vom Januar 1973 bis zu seiner Pensionierung 1980 leitet Wiedersheim die Abteilung Health Manpower Development des Regionalb?ros Europa der WHO in Kopenhagen.

Der jetzt 60-j?hrige Pension?r der WHO ist zu neuen Aufbr?chen bereit und hofft in D?sseldorf bei der Akademie f?r ?ffentliches Gesundheitswesen seine reichhaltigen Erfahrungen einzubringen. Sp?ter wird er uns eindrucksvoll vom staatlich verwalteten Geist durch deutsche B?rokratien als Horrorszenario erz?hlen, was einzigartig auf der Welt sei, von der er so viel erlebt hat. Schlie?lich wird aber der Handschlag zwischen Kienle und Wiedersheim ab November 1982 der Beginn einer Entwicklung frei von B?rokratie und frei f?r eine menschengem??e Medizin - nicht nur f?r Robert, sondern f?r uns, die wir mit der Aufnahme des Studienbetriebs und den ersten 25 Medizin Studierenden im April 1983 ein Wagnis eingingen. Unter seinem Dekanat - besser gesagt mit seinem freundschaftlichen und immer auch kritischen Rat, seinem unaufh?rlichen Fragen, selten Anordnen, mit seiner Zuwendung und Liebe, seinem Mutmachen und Vertrauen - gelang es "aus dem Nichts" eine Fakult?t zu bauen, die inzwischen das Experimentierstadium und den Modellcharakter hinter sich gelassen hat und die nicht zuletzt durch Robert Wiedersheim eine ebenso nationale wie internationale Anerkennung bei den Menschen und sogar einigen B?rokratien gefunden hat, die wissen, wovon sie reden. Wiedersheims Wirken f?r Witten/Herdecke lag in seiner F?higkeit, Studierende und Kliniker, praktische ?rzte und Theoretiker in den weit gestreuten Einrichtungen der Fakult?t auf eine Lehr- und Lern-Philosophie einzuschw?ren. Er gewinnt Dank seiner ?berzeugungskraft, Beharrlichkeit, Bescheidenheit und ohne jede Bevormundung Dozenten aus umliegenden Krankenh?usern und Instituten f?r die neue Idee an der UW/H. Die ?rzteausbildung kann nur besser werden, wenn erkannt wird, dass "wasting of time, human beings und money" (so ein Freund Roberts) der staatlich verwalteten Fakult?ten wirklich ein Ende finden muss. Wittten/Herdecke wie auch die nachfolgenden Reforminitiativen in Deutschland belegen, dass eine Neuorientierung der ?rzteausbildung gelingen kann. Es gilt, den berufenen, in gegenseitiger Verantwortung f?r einander ausgew?hlten Studenten in seinen Anliegen ernst zu nehmen und ihn auf seiner Reise zu einer reifen pers?nlichen Entwicklung und fachlichen Kompetenz zu begleiten. Seitens der Dozenten ist die Freude am Arztberuf und das pers?nliche Vorbild, Kollegialit?t und Gespr?chsbereitschaft im Lehrbetrieb und die Gemeinschaft in der Fakult?t, die ebenso wichtig ist, wie didaktische Kompetenz, fachliche Expertise und wissenschaftliches Niveau. Robert Wiedersheim war vielen Studierenden nie Autorit?tsperson, eher v?terlicher Freund und Ratgeber. Seinen KollegInnen in der Fakult?t war er nicht der Vorgesetzte, sondern Mentor, Motor, Kraftquelle und vielen ein Freund. Wiedersheim hatte allein die gr??ten Schwierigkeiten mit humorlosen Menschen. Wer ihn kannte, wird seinen Witz, Humor, Chuzpe und Charme nicht vergessen k?nnen.

Wiedersheims Credo f?r die ?rzteausbildung sind Lernziele, die sich die Fakult?t zu eigen machen muss:

f?hig werden,

• mit ungew?hnlichen Situationen fertig zu werden

• mit Ver?nderungen umzugehen

• die eigene Weiterbildung verantwortlich zu gestalten

• an Ver?nderungen mitzuwirken

• Kompetenz in Kommunikation zu entwickeln: Informationen austauchen, verhandeln, Rat geben und annehmen

• zu kooperieren.

Diese Lernziele k?nnen nicht in vacuo verwirklicht werden, sondern im Kontext berufsspezifischer Kompetenz. Wie man die Regeln und F?higkeiten des Fu?ballspielens nur im Bewegen des Balls erlernt, so kann Medizin nur dann nachhaltig erlernt werden, wenn in der Praxis Wissen erworben, F?higkeiten trainiert und Einstellungen ?berpr?ft werden. Seine Freunde H.G. Pauli, K. L. White und I. R. McWhinney haben 2001 in ihrem Beitrag (Med. Ausbild. 18, 191-205) "Medizinische Ausbildung, Forschung und wissenschaftliches Denken im 21. Jahrhundert" uns allen, Studierenden und Dozenten, ins Stammbuch geschrieben, was zu tun ist: fassen wir es an und tragen gegen alle Widerst?nde das Verm?chtnis jener wirksam in die Zukunft, die zu Vorbildern und Vorreitern einer menschengem??en Medizin in einer sich wandelnden Welt geworden sind.

Nach seinem Dekanat in Witten ist Wiedersheim ?ber zwei Jahre 1990 bis 1992 Berater, Mitarbeiter und Motor des sich aus einem Studentenstreik in Berlin entwickelnden Reformstudienganges an der Charit?. Wie in Witten/Herdecke ist auch hier seine behutsame Missionierungsart, seine Internationalit?t, seine Begeisterungsf?higkeit die Voraussetzung, manche der knorrigsten Positivisten in der Fakult?t aufzuweichen und anzudocken an einen Lehrbetrieb, der zuerst nach dem Menschen fragt, der sich mit einem Gegenstand des Curriculums verbinden will, um schlie?lich wieder dort zu m?nden, wozu der Arztberuf angelegt ist, n?mlich beim kranken Menschen.

1992 bis 1994 bleibt Wiedersheim Berater an der Universit?t Witten/Herdecke. Die Fakult?t verleiht ihm im Juni 1994 die Ehrenprofessur.

Wieder steht f?r Robert ein Neubeginn bevor: aus einer jungen Freundschaft gehen die beiden 1995 und 2001 geborenen Kinder hervor. Gemeinsam lebt eine gl?ckliche Familie in einem kleinen Dorf an Starnbergersee, zuletzt in liebevoller Pflege um ihren gebrechlichen Alten bem?ht. M?gen seine jungen Kinder ihren ?lteren Stiefgeschwistern, die aus Roberts erster Ehe 1945, 1961 und 1964 stammen, darin folgen und die weite Welt mit wachen Augen erleben: im Libanon, England, Spanien, U.S.A. und Arabien finden sie famili?re Spuren. Damit mag sich der Kreis schlie?en, der Robert Wiedersheims Herkunft und Nachkunft pr?gt: Kulturen und Sprachen kennen lernen, Toleranz und Verst?ndnis entwickeln, Offenbleiben und immer Neues wagen.

Den Medizinstudenten, die 1992/93 f?r ein Jahr auf Studien-Weltreise gingen, schreibt er ins Vorwort ihres in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, erschienen Reiseberichts "Gesundheit und Krankheit in der Welt": "Die UW/H versucht seit ihrer Gr?ndung die Motivation und den Einfallsreichtum der Studierenden w?hrend ihrer Ausbildung wach zu halten. Besonders notwendig ist das f?r die Medizinstudierenden, ist doch deren staatliche Reglementierung, wie, wann und was gelernt werden muss, f?r eine lebendige Entwicklung studentischer Pers?nlichkeiten und Initiativen ganz eindeutig hinderlich. .... .Welche auch ihre Motive waren, was z?hlt, ist eine Idee zu verwirklichen, Neues zu erfahren, zu lernen und Freude daran zu behalten. Durch die Vielfalt der lebendigen Wiedergabe, was und was nicht m?glich ist f?r die verschiedenen Heilberufe, ist mit diesem Buch ein bisher selten aufgezeigter Bericht verf?gbar." Versteht sich, dass auch diese Studierenden sich auf Wiedersheims weltweites Netz von Verbindungen st?tzen konnten. Aber nicht nur sie, fast alle Medizinstudierenden der UW/H verbringen Monate ihres Studiums in den U.S.A., Skandinavien, Israel, Afrika, Australien, England, den Niederlanden oder Frankreich. Inzwischen sind aus Wiedersheims weltweiten Verbindungen feste Bande entstanden, die alle Nachfolgenden immer fester kn?pfen und erweitern. Wiedersheim hat ein externes Review der Fakult?t angeregt, indem international anerkannte Fachleute regelm??ig das Curriculum und Outcome des Wittener Medizinstudiums ?berpr?fen sollen.

Die weltweit vernetzte Community der Medizinreformer, etwa in der AMEE oder WFME und die Gesellschaft f?r Medizinische Ausbildung in Deutschland verliert mit Robert Wiedersheim einen manchmal auch unbequemen, nie angepassten, immer engagierten und offenherzigen Menschenfreund, Kommunikator par excelence und an vielen Medizinschulen zu Hause seienden Kollegen, Freund, Mentor, Fachmann - einfach einen gro?artigen Menschen. Charles Engel r?umte ihm bei der Laudatio zur Ehrenprofessur einen Ehrenplatz unter den Pionieren des 20. Jahrhunderts im Felde menschlicher Unternehmungen ein. Welche Fakult?t tr?umt nicht davon, einen der ihren zu den lebenslang Geweihten f?r die Medizin, Public Health und medizinische Ausbildung zu z?hlen, wie es Robert Wiedersheim war?