F?rderung von Diagnosekompetenz in der medizinischen Ausbildung durch Implementation eines Ansatzes zum fallbasierten Lernen aus L?sungsbeispielen
Veronika Kopp 1Robin Stark 2
Martin R. Fischer 1
1 Ludwig-Maximilians-Universit?t M?nchen, Medizinische Fakult?t, Schwerpunkt Medizindidaktik, Klinikum der Universit?t M?nchen, Medizinische Klinik - Innenstadt, M?nchen, Deutschland
2 Universit?t des Saarlandes, Fakult?t f?r Empirische Humanwissenschaften, Fachrichtung Erziehungswissenschaft, Saarbr?cken, Deutschland
Zusammenfassung
Die f?nfth?ufigste Todesursache in den USA sind medizinische Fehler. Darunter fallen auch Fehler beim Diagnostizieren. Die richtige Diagnose stellen zu k?nnen ist eine wichtige Voraussetzung f?r die optimale medizinische Versorgung der Patienten und zentrale Kompetenz eines jeden Arztes. Studierende und angehende ?rzte haben jedoch erfahrungsgem?? erhebliche Schwierigkeiten, die richtige Diagnose zu generieren.
In diesem Artikel soll mit dem fallbasierten Lernen aus L?sungsbeispielen ein Instruktionsansatz vorgestellt werden, mit dem diesem Problem begegnet werden kann. Zuvor werden die Unterschiede zwischen Experten und Novizen in der Medizin erl?utert und erkl?rt, welche Prozesse zur Entwicklung von Expertise f?hren. Im letzten Kapitel wird auf M?glichkeiten der Operationalisierung von Diagnosekompetenz eingegangen, die auf diesen Ansatz abgestimmt sind.
Schlüsselwörter
beispielbasiertes Lernen, ausgearbeitete L?sungsbeispiele, Diagnosekompetenz, Lernen aus Fehlern, Prozessorientierung
Einleitung
In vielen Dom?nen zeigt sich immer wieder das aus p?dagogisch-psychologischer Sicht entt?uschende Ph?nomen, dass Wissen, das in einem bestimmten Kontext erworben wurde, in einem anderen, mehr oder weniger entfernten Kontext nicht erfolgreich angewandt werden kann [1]. Dieses Problem, das als Problem des "tr?gen Wissens" [2] bezeichnet wird, zeigt sich auch in der Medizin. So konnten Gr?sel und Mandl [3] zeigen, dass der Gro?teil der Studierenden zu Beginn des klinischen Studienabschnitts bei der Diagnosefindung auf reines "Datensammeln" verfiel, d.h. die Befunde des Patienten wurden ohne Bezug zu Hypothesen erhoben, nicht miteinander verbunden und auch nicht zu m?glichen Diagnosen in Beziehung gesetzt. Viele Studierende waren nicht in der Lage, Hypothesen zu generieren, diese auf der Basis der erhobenen Befunde zu bewerten und damit zur richtigen Diagnose zu gelangen. Die Studierenden hatten also noch nicht den daf?r n?tigen Expertisegrad erreicht. Inwiefern ein Ansatz zum fallbasierten Lernen aus L?sungsbeispielen geeignet ist, die Diagnosekompetenz und damit die Expertise der Studierenden zu f?rdern, ist Gegenstand der folgenden ?berlegungen.
Dabei wird nach der Vorstellung einer Definition des Expertisebegriffs zuerst die Frage beantwortet, wie man Experte in einer Dom?ne wird bzw. welche Prozesse bis dahin durchlaufen werden m?ssen. Anschlie?end wird der Ansatz zum fallbasierten Lernen aus L?sungsbeispielen vorgestellt und diskutiert, welche Potenziale dieser Ansatz f?r die Medizinerausbildung birgt. Am Ende wird ein Vorschlag zur Operationalisierung von Diagnosekompetenz gemacht.
Expertise
In der heute am meisten verbreiteten Definition [4] wird ein Experte als Person bezeichnet, die auf einem bestimmten Gebiet dauerhaft, also nicht zuf?llig und nicht nur ein einziges Mal, herausragende Leistungen erbringt. Seit Jahrzehnten wird haupts?chlich in der Psychologie, aber auch in anderen Bereichen, versucht, dem Ph?nomen "Expertise" auf die Spur zu kommen. Eine der wichtigsten Fragen, die dabei gestellt werden, ist die Frage, wie man zu einem Experten auf einem bestimmten Gebiet wird [5].
Im Folgenden stellen wir die Ans?tze aus der Expertiseforschung dar, die diese Frage f?r die Dom?ne "Medizin" – insbesondere f?r die Diagnosekompetenz – am besten beantworten.
Nach Patel und Groen [6] werden allgemein vier Stufen auf dem Weg zum Experten durchlaufen: vom Novizen bzw. Anf?nger ?ber die Stufe des Intermediates und generischen Experten hin zum Experten. ?bertragen auf die Medizin bedeutet dies, dass die Wissensbasis von Novizen durch geringes biomedizinisches
Wissensenkapsulierung: Durch die wiederholte Anwendung biomedizinischer Konzepte beim Diagnostizieren wird biomedizinisches Wissen mit einer begrenzten Anzahl klinisch relevanter Konzepte verkn?pft; es wird enkapsuliert. Enkapsulierte Konzepte fassen somit ganze deklarative Netzwerke in erster Linie biomedizinischer Konzepte zusammen. In der Regel sind Enkapsulierungen diagnostisch relevante Konzepte h?heren Niveaus oder vereinfachte kausale Modelle, die Symptome erkl?ren [9]. Diese enkapsulierten klinischen Konzepte, die als dom?nenspezifische Schemata oder Skripts beschrieben werden k?nnen, haben das gleiche Erkl?rungspotential wie elaborierte biomedizinische Konzepte [12], sind jedoch ?konomischer und v.a. praktikabler [9].
Illness Scripts: Illness Scripts sind Wissensstrukturen, die eine F?lle an Informationen ?ber eine Krankheit beinhalten. Dazu geh?ren die Symptome der Krankheit, ihre Risikofaktoren, die Umst?nde, unter denen sich die Krankheit entwickeln kann und ihre Folgen. Den Illness Scripts liegen, je nach Expertisegrad, mehr oder weniger enkapsulierte Konzepte zugrunde. Mit zunehmender Erfahrung werden Illness Scripts mit den Informationen von behandelten Patientenf?llen angereichert und in narrative Strukturen umgewandelt, den sog. Instance Scripts. "Diese narrativen Strukturen k?nnen im Sinne episodischer Erinnerungen an tats?chliche Patienten bei der Diagnose neuer F?lle ausgenutzt werden" [5].
Das Aktivieren enkapsulierter Konzepte, die mit fallbasierten Illness Scripts angereichert sind, ist ein dynamischer Prozess, der stattfindet, w?hrend die klinische Fallinformation aufgenommen wird [12]. Informationen ?ber Symptome aktivieren somit spezifische enkapsulierte Konzepte. Dadurch werden ressourcenschonende Automatisierungen und "Abk?rzungen" im Diagnoseprozess m?glich [13]. Da das biomedizinische Wissen nicht verloren, sondern in enkapsulierte Konzepte eingebettet ist, k?nnen Experten in einem schwierigen Fall jederzeit zu einem nicht-automatisierten Diagnoseprozess unter Heranziehung biomedizinischen Wissens zur?ckkehren [14].
Ein effektiver Diagnoseprozess kann folgenderma?en beschrieben werden [15], [16]: Schon beim ersten Patientenkontakt w?hrend der Anamnese generiert der Arzt eine oder mehrere Hypothesen. Die Hypothesengenerierung wird durch Hinweise ausgel?st, wie beispielsweise wahrgenommene Symptome. Im Verlauf des Diagnoseprozesses dienen diese Hypothesen als Kontext f?r die weitere Anamnese und die Befunderhebung [15]. Aufbauend auf diesen Hypothesen werden dem Patienten gezielt Fragen gestellt und Befunde erhoben, um auf der Basis der ersten Ergebnisse weitere Schlussfolgerungen ziehen zu k?nnen. Sprechen die Daten f?r die Hypothese, wird sie verfeinert, sprechen sie dagegen, wird sie verworfen. Bei dieser Hypothesenpr?fung gleicht der Arzt die Symptome des Patienten mit seiner Repr?sentation der Krankheit ab, die er beim Patienten vermutet (Matching) [16]. Das ?berpr?fen, Verfeinern, Ausschlie?en und ggf. Neugenerieren von Hypothesen und Einholen weiterer Daten und Befunde wird solange fortgesetzt, bis eine Diagnose gefunden ist. Biomedizinisches Wissen spielt dabei nur eine indirekte Rolle [7].
Um biomedizinisches Wissen reorganisieren, enkapsulieren und um Illness Scripts aufbauen zu k?nnen, bedarf es des h?ufigen Umgangs mit F?llen. Dass der fr?he und h?ufige Einsatz von F?llen wichtig f?r den Erwerb anwendbaren Wissens ist, zeigten Studien zum fallbasierten und problemorientierten Lernen [17], [3], [18].
Um anwendbares Wissen zu f?rdern und somit tr?ges Wissen zu vermeiden, wird der Einsatz von F?llen und ausgearbeiteten L?sungsbeispielen empfohlen. W?hrend fallbasiertes Lernen vermehrt Eingang in Curricula gefunden hat, ist ein l?sungsbeispielbasierter Ansatz hierf?r noch nicht "entdeckt" worden. Inwiefern L?sungsbeispiele zur F?rderung der Diagnosekompetenz beitragen k?nnten und warum, wird im n?chsten Kapitel beschrieben.
Fallbasiertes Lernen aus L?sungsbeispielen
Ausgearbeitete L?sungsbeispiele setzen sich aus zwei Teilen zusammen: der Aufgabenstellung und einer (mehr oder weniger) detaillierten Darstellung des L?sungswegs. Beim Lernen aus L?sungsbeispielen studieren Lernende Aufgaben, deren L?sungsschritte ihnen im Anschluss in mehr oder weniger ausgearbeiteter Form pr?sentiert werden. Die Aufgaben k?nnen, wie im hier dargestellten Ansatz, auch in Form von authentischen Fallinformationen vorgegeben werden (fallbasiertes Lernen aus L?sungsbeispielen). In der Regel werden L?sungsbeispiele in Kombination mit Lehrtexten eingesetzt, in denen relevante dom?nenspezifische Konzepte und Prinzipien vorab definiert und erkl?rt werden.
Sowohl die Effektivit?t als auch die Effizienz ausgearbeiteter L?sungsbeispiele beim initialen Lernen ist f?r verschiedene wohlstrukturierte Inhaltsgebiete (z.B. Mathematik, Informatik und Physik) hinreichend belegt [19], [20], [21], [22], [1]. Insbesondere f?r den Schemaerwerb, der ein zentraler Bestandteil von Wissensenkapsulierungsprozessen und auch von Prozessen der Generierung von Illness Scripts darstellt, hat sich der instruktionale Einsatz ausgearbeiteter L?sungsbeispiele bew?hrt (u. a. [23], [24]). Diese Effekte werden nur dann erzielt, wenn auf Seiten der Lernenden Matchingprozesse angeregt werden, die die Schemainduktion unterst?tzen; deshalb ist es notwendig, instruktional mit Sequenzen gut ausgew?hlter und systematisch aufeinander abgestimmter L?sungsbeispiele zu operieren [25], [22].
Die Effektivit?t l?sungsbeispielbasierten Lernens kann u. a. mit der Cognitive-Load-Theorie [26] erkl?rt werden. Im Vergleich zu Probleml?seaufgaben schonen L?sungsbeispiele unter sonst gleichen Bedingungen kognitive Ressourcen und erm?glichen zudem eine lernwirksame Fokussierung der Aufmerksamkeit auf probleml?serelevante Aufgabenaspekte [27]. Dadurch werden sowohl Schemaerwerb als auch Regelautomatisierung gef?rdert, was wiederum erfolgreiche Wissensanwendung und Transfer erm?glicht [28], [24].
In weniger strukturierten, komplexeren Dom?nen, zu denen verschiedene Teilgebiete der Medizin zu rechnen sind, wurde die Effektivit?t beispielbasierten Lernens bisher noch nicht untersucht. Aber gerade in komplexeren Dom?nen ist der Aufbau differenzierter und elaborierter Schemata eine notwendige Voraussetzung f?r Enkapsulierungsprozesse und die Entwicklung von Illness Scripts.
Bereits in wohl strukturierten Dom?nen waren ausgearbeitete L?sungsbeispiele jedoch nicht per se anderen Lernmethoden ?berlegen. Entscheidend f?r die Wirksamkeit dieser Lernmethode ist die Qualit?t der Beispielelaboration [22], die auch als Indikator f?r Schemainduktion herangezogen werden kann. Es konnte mehrfach gezeigt werden, dass viele Lernende L?sungsbeispiele spontan zu passiv und oberfl?chlich elaborieren [29], [22] und damit das Potenzial der Lernmethode nicht aussch?pfen. Diesem Problem kann durch Einsatz zus?tzlicher Ma?nahmen erfolgreich begegnet werden [22], [30]:
Als besonders ?konomische Vorgehensweisen haben sich die systematische Kombination von ausgearbeiteten L?sungsbeispielen und Probleml?seaufgaben [31] oder die Vorgabe unvollst?ndiger, von den Lernenden zu vervollst?ndigender L?sungsschritte [22] erwiesen. Mit beiden Ma?nahmen wird nachweislich die Qualit?t der Beispielelaboration gef?rdert, die wiederum einen positiven Einfluss auf den Lern- und Probleml?seerfolg im Allgemeinen und auf Schemainduktion im Besonderen hat [22]. Das selbstst?ndige Bearbeiten einzelner L?sungsschritte oder kompletter Probleml?seaufgaben unterst?tzt Aktivit?t und Selbststeuerung der Lernenden und dient als Korrektiv f?r sog. Verstehensillusionen; nachfolgend bereitgestellte Musterl?sungen oder analoge, vollst?ndig ausgearbeitete L?sungsbeispiele fungieren als elaborierte Feedbackma?nahme, die der Korrektur von Fehlern dienen und etwaige Wissensl?cken kompensieren kann [31], [32].
In wohl strukturierten Dom?nen, in denen Problemstellungen sehr ?berschaubar und auf wenige L?sungsschritte begrenzt bleiben, lassen sich mit den beschriebenen Ma?nahmen substanzielle Effekte erzielen. Es ist jedoch anzunehmen, dass in komplexeren Dom?nen, zu denen die Diagnostik in der Medizin gerechnet werden muss, weiter gehende Ma?nahmen angezeigt sind, um die Effektivit?t beispielbasierten Lernens sicherzustellen bzw. zu f?rdern. Eine viel versprechende, jedoch noch kaum untersuchte Ma?nahme besteht in der Intensivierung des Probleml?sefokus durch Verst?rkung der Prozessorientierung. Van Gog, Paas und Van Merrienboer [33] realisierten eine prozessorientierte Herangehensweise durch Pr?sentation von Hintergrundinformationen und durch Erkl?ren von l?sungsrelevanten Sachverhalten und Operatoranwendungen. Durch diese zus?tzlichen Informationen, die eine spezielle Form der von Renkl [20], [34] eingesetzten instruktionalen Erkl?rungen darstellen (vgl. [35]), werden auch komplexere Probleml?seschritte nachvollziehbar, was insbesondere bei vorwissensschw?cheren Lernenden der Schemainduktion und damit der Wissensanwendung im Allgemeinen und der Transferleistung im Besonderen zugute kommen k?nnte. Dies d?rfte insbesondere dann der Fall sein, wenn nicht wie bei Van Gog et al. [33] nur die im Probleml?seprozess getroffenen Entscheidungen erkl?rt werden, sondern dar?ber hinaus auch noch eine Verortung dieser Entscheidungen im gesamten L?sungsprozess veranschaulicht wird, beispielsweise durch Vorgabe eines Entscheidungsbaumes; ein solcher verdeutlicht auch alternative Vorgehensweisen, die unter anderen Voraussetzungen zu w?hlen w?ren. Es ist anzunehmen, dass diese Anreicherung von L?sungsbeispielen mit verstehensrelevanten Hintergrundinformationen Wissensenkapsulierungsprozessen zugute kommt.
Die Kombination von L?sungsbeispielen mit authentischer Fallinformation sowie die Anreicherung der L?sungsschritte mit mehr oder weniger ausf?hrlichen Informationen zum Probleml?seprozess bietet auch eine geeignete M?glichkeit, ?ber fehlerhafte Diagnoseschritte bzw. Entscheidungen zu informieren. Aufgrund der weit reichenden Konsequenzen, die aus Fehlern im medizinischen Diagnoseprozess resultieren k?nnen [36], ist es entscheidend, dass ein angehender Arzt auch die Konsequenzen seines Handelns bzw. seines unterlassenen Handelns richtig einsch?tzen kann. Oser, Hascher und Spychiger [37] f?hren in diesem Zusammenhang das Beispiel eines Chirurgen an, der wei?, was er nicht tun darf, um den Patienten nicht zu gef?hrden und bezeichnet dieses Wissen als "Negatives Wissen". Mit Oser et al. [37] kann davon ausgegangen werden, dass jeder Fehler Lernpotential beinhaltet.
Fehler beim Diagnostizieren k?nnen in verschiedene Fehlertypen eingeteilt werden. Graber, Gordon und Franklin [38] unterscheiden zwischen "no-fault errors", "system errors" und "cognitive errors". "No-fault errors" sind Diagnosefehler, die zwar gemacht wurden, bei denen den diagnostizierenden Arzt jedoch keine Schuld trifft, da die Krankheit entweder unbemerkt verlief, sich untypisch pr?sentierte oder in ihren Symptomen einer viel g?ngigeren Krankheit ?hnelte. Als "system errors" werden Fehler bezeichnet, die durch den Ablauf im Gesundheitssystem entstehen. "Cognitive errors" schlie?lich sind Fehler, die beim Prozess des Diagnostizierens im Kopf des Arztes entstehen. Diese Art von Fehlern, die bei der Erfassung von Diagnosekompetenz fokussiert wird, kann erkl?rt werden durch unzureichendes bzw. fehlerhaftes Wissen, mangelnde bzw. fehlerhafte Datenerhebung, Fehler bei der Interpretation der Daten und metakognitive Fehler.
Damit Fehler produktiv sind und letztlich zu einer Verhaltens?nderung im Sinne der Fehlervermeidung f?hren, bedarf es eines konstruktiven Umgangs mit ihnen. Der Lernende muss den Fehler gezielt als Lernanlass nutzen. Dazu muss der Fehler erkannt, die richtige L?sung nachvollzogen und diese in einem Vergleich zwischen Fehler und richtiger L?sung verstanden werden. Sp?testens an dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig beim Lernen aus Fehlern die Rolle des Feedbacks ist. Dieses sollte m?glichst unmittelbar gegeben werden und so elaboriert sein [32], dass der Lernende versteht, warum genau der vorgeschlagene Diagnoseschritt bzw. die daraus abgeleiteten Konsequenzen fehlerhaft oder falsch sind. Erst der nachvollzogene Fehler, der zu Negativem Wissen geworden ist, bef?higt den Lernenden, beim n?chsten Mal Fehlerhaftes leichter zu erkennen. Zudem bleibt der Fehler im episodischen Ged?chtnis und wirkt dort als Korrektiv f?r ein ?hnliches Problem; an dieser Stelle wird die Schutzfunktion des Negativen Wissens deutlich. Es ist anzunehmen, dass der fall- und beispielbasierte Erwerb negativen Wissens eine Basis f?r die sp?tere Entwicklung entsprechender "negativer" Illness Scripts bildet, die ein wichtiges Korrektiv f?r Diagnosefehler darstellen d?rften.
Operationalisierung von Diagnosekompetenz
Abgeleitet aus dem oben beschriebenen effektiven Diagnoseprozess und aus der Fehlertaxonomie zeichnen sich Experten im Vergleich zu Novizen und Intermediates vor allem durch das Erkennen der richtigen Diagnose und das schnellere L?sen von Routinef?llen bzw. die Identifikation fehlerhafter Diagnoseschritte und falscher Diagnosen aus. Intermediates und unerfahrene ?rzte brauchen l?nger, um eine diagnostische Hypothese zu generieren und Informationen zu sammeln; zudem sind sie sich in ihrer Diagnose weniger sicher und machen h?ufiger Fehler [39]. Vor dem Hintergrund dieser Befunde umfasst das hier verwendete Konzept Diagnosekompetenz nicht nur das Produkt, also die richtige Diagnose, sondern auch den Prozess, in dem der Fr?hzeitigkeit und Qualit?t der auf der Basis unvollst?ndiger Daten aufgestellten Arbeitsdiagnose eine zentrale Bedeutung zukommt.
Zur Erhebung der Diagnosekompetenz kann der Key-Feature-Ansatz herangezogen werden [40], [41], [42], [43]. Key-Features zielen auf kritische Entscheidungen bei der Auseinandersetzung mit einem Patientenfall ab, die getroffen werden m?ssen, um ein klinisches Problem zu l?sen. In der Regel beziehen sich die Fragen zur klinischen Situation auf die Differentialdiagnosen, auf die diagnostischen Untersuchungen, die zur weiteren Abkl?rung der Diagnose n?tig sind, und auf das Management und die therapeutischen Entscheidungen. Damit kann sowohl das Produkt, also die richtige Diagnose, als auch der Prozess, die Qualit?t der Arbeitsdiagnose, operationalisiert werden.
Eine weitere M?glichkeit der Operationalisierung besteht in der Vorgabe von Patientenf?llen in Kombination mit unvollst?ndigen L?sungsbeispielen. Bei diesen L?sungsbeispielen sind nicht alle L?sungsschritte ausgearbeitet und m?ssen von den Lernenden vervollst?ndigt werden. Im Gegensatz zu Key-Feature-F?llen besteht bei der Vorgabe unvollst?ndiger L?sungsbeispiele die M?glichkeit, die Schlussfolgerungen, die Studierende gezogen haben und die sich in der Arbeitsdiagnose oder in weiteren Schritten zur Abkl?rung der Krankheit niederschlagen, erkl?ren zu lassen. Bei der Auswertung der Antworten sollte ber?cksichtigt werden, inwiefern Studierende bereits klinisch argumentieren bzw. inwiefern sie pathophysiologische Prozesse zur Erkl?rung heranziehen. Dies w?re m?glicherweise auch ein Ansatz, den Grad der Wissensenkapsulierung zu messen.
Ausblick
Die Effektivit?t des dargestellten Ansatzes zum fallbasierten Lernen aus L?sungsbeispielen wird zurzeit im Rahmen einer experimentellen Studie systematisch untersucht. Hierbei kommen auch die verschiedenen Operationalisierungen von Diagnosekompetenz zum ersten Mal zum Einsatz und werden in Hinblick auf Brauchbarkeit und Erf?llung testtheoretischer G?tekriterien analysiert werden.
Anmerkung
F?rderung
Das Projekt "F?rderung diagnostischer Kompetenz durch beispielbasiertes Lernen: Einfluss von Prozessorientierung und Fehler" wird von der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) gef?rdert (FK: FI 720/2-1; STA 596/3-1).
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