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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

AWS

1865-066X


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Fachbeitrag

[Some aspects of the Russian medical library system]

 Sergei V. Jargin 1

1 Peoples’ Friendship University of Russia, Moskau, Russland

Abstract

The recent history of Russian medical libraries is presented here with special reference to the most important Moscow libraries. The problems and successes of the Central Medical Library in Moscow and the Russian State Library will be described in more detail. In Russia access to international specialist literature has long been more or less restricted, which has disadvantages for practice and research. The lack of literature was partially compensated for by Russian-language editions, some of which were compilations from foreign sources that contained translations of different quality and were sparsely illustrated. Today, thanks to internet resources, these obstacles are gradually being overcome. However, free internet sources cannot fully address the persistent shortage of paper issues of handbooks and journals. According to the author, the Russian librarianship should develop with more international cooperation, following the pattern of Western European neighbors.


Keywords

library, Russia, Central Scientific Medical Library of I.M. Sechenov, National Library of Russia, healthcare

Einleitung

Der Zugang zur internationalen Fachliteratur ist in Russland seit 1917 mehr oder weniger eingeschränkt, was Nachteile für die Praxis und Forschung zur Folge hat [1], [2], [3], [4]. Zudem ist die Tendenz bemerkbar öffentliche Bibliotheken einzuschränken oder zu schließen, indem deren Räumlichkeiten privaten oder staatlichen Einrichtungen übergeben werden. Das letztere betrifft auch die für die medizinische Praxis und Forschung wichtigsten Bibliotheken, die Russische Staatsbibliothek (RSB) und besonders die Zentrale Medizinische Bibliothek (ZMB) in Moskau. Diese nachteiligen Veränderungen kann man sowohl auf eine mangelnde Finanzierung als auch auf das abnehmende Interesse von Seiten des Publikums zurückführen. Einige Bibliotheken sind heute tatsächlich oft menschenleer. Die RSB ist hingegen fast immer voll, die Besucherschaft hat sich aber geändert: Es sind weniger Akademiker und mehr zufällig vorbeikommende Leute, die sich unter anderem für den Internetzugang interessieren. Zudem werden die Leser von den Bibliothekaren nicht immer helfend und freundlich behandelt, was verschiedene Ursachen haben kann. Eine davon ist die auch im staatlichen Gesundheitswesen bemerkbare, zunehmend nachlässige Einstellung gegenüber nichtzahlenden Kunden. Die Ursache kann unter Umständen aber auch viel spezifischer sein. Zum Beispiel stellen Geschäftsleute, meist gleichzeitig Bibliotheksmitarbeiter an Fachbibliotheken, Literaturübersichten bzw. Literaturverzeichnisse für Dissertationen zusammen. Sogar hochgestellte Personen an Universitäten und ähnlichen Einrichtungen nehmen solche Leistungen in Anspruch [5]. Dadurch entsteht aber beim Bibliothekspersonal die Neigung, die selbstständige Literaturrecherche von potentiell zahlender Kundschaft zu verhindern. Früher hat auch der im selben Gebäude stattfindende Buchhandel unter Beteiligung von Bibliotheksmitarbeitern zu Interessekonflikten beigetragen, das scheint aber heute weniger eine Rolle zu spielen. Das Thema der Benutzerfreundlichkeit ist besonders an der ZMB, die im nächsten Absatz beschrieben wird, aktuell: Die wenigen vorhandenen ausländischen Handbücher sind schwer zu finden, die Suchmaschine ist benutzerunfreundlich und viel Literatur, auch aus der Sowjetzeit, wird den Lesern aus technischen Gründen nicht herausgegeben.

Die Zentrale Medizinische Bibliothek (ZMB) in Moskau

Die ZMB besitzt die größte Sammlung medizinischer Literatur im Lande [1], [2]. Seit 2001 ist die Bibliothek in die Moskauer Medizinische Universität (ehemals Akademie) „I. M. Setschenow“ eingegliedert. Die Universität hat der Bibliothek viele Räume weggenommen, die heute für den Unterricht und andere Zwecke benutzt werden. Von einem großräumigen Gebäude (Abbildung 1 [Abb. 1]), das in den 1980er Jahren ganz der Bibliothek gehörte, ist nur ein kleiner Lesesaal im Erdgeschoß übriggeblieben. Die Anzahl der Leser im Saal ist allerdings oft sehr gering.

Abbildung 1: Die Zentrale Medizinische Bibliothek (ZMB) in Moskau, erbaut im Jahr 1978

Im Vergleich zu den 1980er Jahren ist die Anschaffung ausländischer Zeitschriften und Bücher zurückgegangen. Die entsprechenden Ausgaben in russischer Sprache enthalten oft Kompilationen aus ausländischen Quellen mit Übersetzungen unterschiedlicher Qualität und Präzision (Abbildung 2 [Abb. 2]) und sind, wenn überhaupt, nur spärlich illustriert. Zitierungen ohne Verweise sind darin keine Seltenheit. Umfangreiche Plagiate scheinen dabei allerdings derzeit weniger häufig zu sein [5], [6] als noch im 20. Jahrhundert. Ausländische Literatur wird heute generell mehr zitiert, offenbar dank des Internets.

Abbildung 2: Fehlerhafte Übersetzung eines Lehrbuches der Pathologie [12]. Ein Absatz aus diesem (a) reproduziert (b) in einem russischen Lehrbuch [13]. Der wortwörtlich übersetzte Text ist unterstrichen. Carbon monoxide (a) wurde allerdings als CO2 übersetzt (b).

Im Gegensatz zu den 1980er Jahren abonniert die Bibliothek heute keine Papierausgaben vieler weltbekannter Zeitschriften wie BMJ, Lancet, JAMA, Deutsches Ärzteblatt, Virchows Archiv und Minerva Medica mehr. Der Autor erinnert sich, dass in den 1980er Jahren ein Besucher noch durch Papierausgaben blättern konnte, was interessant und informativ war. Diese Zeitschriftenausgaben boten mit ihren Artikeln oft eine thematisch sehr breite Übersicht an. Viele ausländische Zeitschriften aus den Jahren 1990 bis 2010, die in der Bibliothek vorhanden sind, können aber von Lesern schon seit langem nicht mehr bestellt werden, weil sie sich im Keller befinden (Abbildung 3a [Abb. 3]) [2], [3]. Auch einige neuere Ausgaben werden nach dem Eintreffen sofort in den Keller verlagert und stehen deswegen dem Leser ebenfalls nicht zur Verfügung. Wegen wiederholter Schäden durch Auslaufen von Wasser, Überschwemmungen und Renovierungen ist auch die russischsprachige Literatur teilweise nicht mehr verfügbar (Abbildung 3b [Abb. 3]).

Abbildung 3: Im Keller der Zentralen Medizinischen Bibliothek (ZMB) in Moskau. Gestapelte, nicht zugängliche Zeitschriften der Jahre 1990–2010 (a) und Zeitschriften mit Wasserschaden (b).

Viele Bücher und Zeitschriften haben Zeichen von Wasserschäden, darunter auch kostbare historische Ausgaben (Abbildung 4 [Abb. 4]) [7], [8]. Einige dieser wertvollen Exemplare und weitere antiquarische Bücher konnten zwar um das Jahr 2009 in einem Ausstellungssaal angesehen werden, im elektronischen Katalog der ZMB sind sie aber nicht verzeichnet.

Abbildung 4: Wertvolle, beschädigte Bücher der Zentralen Medizinischen Bibliothek (ZMB) in Moskau aus dem 18. Jahrhundert [7], [8]. Eine Papiertasche ist über die Gravüre geklebt und Wasserschäden sind sichtbar (a). Ein Stempel der ZMB und sichtbare Wasserschäden (b).

Die Russische Staatsbibliothek (RSB) und andere Bibliotheken

Der einzigartige Status, reiche Traditionen und die erfahrene Belegschaft der RSB ermöglichen eine hohe Dienstleistungsqualität. Die Arbeitsbelastung ist in letzter Zeit gestiegen, die Lesesäle sind oft voll. Einige der schon beschriebenen Nachteile bestehen jedoch fort [1], [2], [3]. Zum Beispiel wurden mehrere 2–3 Jahre alte Druckausgaben von Zeitschriften so gebunden, dass der Text weder kopiert noch vernünftig fotografiert werden kann. Wie bereits hinsichtlich der ZMB erwähnt, hat auch die RSB die Papierausgaben vieler Zeitschriften abbestellt.

Bibliotheken an Universitäten und ähnlichen Einrichtungen, wie auch medizinisch orientierte Büchereien in anderen Städten, haben nur kleinere Bestände an medizinischer Fachliteratur im Vergleich zu ZMB und RSB. Insbesondere ist nur eine sehr begrenzte Anzahl von international benutzten Handbüchern vorhanden, von denen die meisten ziemlich alt sind. Zugegebenermaßen wird aber im Zeitalter des Internets die internationale Literatur, speziell Übersichtsartikel zu verschiedenen Themen, zunehmend online erreichbar, und somit immer mehr benutzt und auch zitiert.

Das Institut für Sozialwissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften (als INION bekannt) besitzt eine große Bibliothek, die beim Brand im Jahr 2015 umfangreiche Schäden erlitten hat (Abbildung 5 [Abb. 5]). Der dort aufbewahrte Teil der ehemaligen Bibliothek des Herzogtums Sachsen-Coburg und Gotha hat dabei angeblich nur leichte Beschädigungen durch Wasser und Ruß erfahren [9]. Im Jahre 1946 waren 330.000 Bände dieser Bibliothek in die Sowjetunion abtransportiert worden [10]. Im Jahre 1956 wurde ein Teil davon nach Gotha zurückgebracht. Der andere Teil der Bibliothek wurde mindestens 30 Jahre lang gestapelt in einer stillgelegten Kirche aufbewahrt und nicht benutzt. Ende der 1970er begann man diese Bände an die INION zu übersiedeln [9]. Es wird jetzt auch geplant, das INION-Gebäude nach dem Brand zu restaurieren. Nach Meinung des Autors ist das eine Fehlentscheidung, denn das zweistöckige Gebäude (Abbildung 5 [Abb. 5]) nimmt eine zu große Fläche neben der Metrostation ein. Es wäre von Vorteil, die INION-Bibliothek mit der RSB zu vereinigen, und an der Stelle des abgebrannten Gebäudes eine moderne mehrstöckige RSB-Filiale anstatt der entlegenen Filiale in der Vorstadt Chimki [2], [3] einzurichten. Es soll auch erwähnt werden, dass die Russische Nationale Öffentliche Bibliothek für Wissenschaft und Technologie im Jahre 2014 aus der Stadtmitte Moskaus in die Peripherie verlagert wurde. Und nicht zuletzt ist es ungünstig, dass die meisten Bibliotheken während der gesamten Winterferien, vom 31. Dezember bis zum 8. Januar, geschlossen bleiben.

Abbildung 5: Das INION-Gebäude im Jahr 2017, nachdem die Bibliothek bei einem Brand in 2015 große Schäden erlitten hatte

Fazit

Die Folgen des beschränkten Zuganges zur internationalen medizinischen Fachliteratur in Russland für die Praxis und Forschung wurden bereits im Detail diskutiert [4], [11]. Zusammenfassend führt der eingeschränkte Zugang einerseits zur Beibehaltung veralteter Einstellungen und Methoden in der Alltagspraxis, andererseits werden unter Umständen Arzneimittel und Behandlungsmethoden ohne wissenschaftlich bewiesene Wirksamkeit (nicht evidenzbasiert) amtlich registriert und von Ärzten verschrieben. Die internationale Literatur wird heutzutage dank Open Access immer mehr benutzt. Diese freien Quellen können aber bis jetzt die Papierausgaben von Zeitschriften und Handbüchern nicht in vollem Maße ersetzen.

Anmerkung

Interessenkonflikte

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

[1] Murphy J, Jargin S. International trends in health science librarianship part 20: Russia. Health Info Libr J. 2017 Mar;34(1):92-4. DOI: 10.1111/hir.12172
[2] Jargin SV. The state of medical libraries in the former Soviet Union. Health Info Libr J. 2010 Sep;27(3):244-8. DOI: 10.1111/j.1471-1842.2010.00895.x
[3] Jargin SV. Moscow libraries: architecture and function. CILIP Health Libraries Group Newsletter. 2011;28(2):9-12. [letzter Zugriff 15.03.2020]. Verfügbar unter: https://cdn.ymaws.com/www.cilip.org.uk/resource/collection/E30619C2-E1C1-4846-B3C2-C1C53725384E/HLG_Newsletter_June_2011.pdf
[4] Jargin SV. Eingeschränkter Zugang zur internationalen medizinischen Fachliteratur in der ehemaligen Sowjetunion [Limited access to the international medical literature in Russia]. Wien Med Wochenschr. 2012 Jun;162(11-12):272-5. DOI: 10.1007/s10354-012-0111-2
[5] Jargin SV. Pathology in the former Soviet Union: scientific misconduct and related phenomena. Dermatol Pract Concept. 2011;1(1):75-81. DOI: 10.5826/dpc.0101a16
[6] Jargin SV. Plagiarism in radiology: A substitute for importation of foreign handbooks. J Med Imaging Radiat Oncol. 2010 Feb;54(1):50-2. DOI: 10.1111/j.1754-9485.2010.02137.x
[7] Ackermann JCB. Ueber die Krankheiten der Gelehrten und die leichteste und sicherste Art sie abzuhalten und zu heilen. Nürnberg: Martin Jacob Bauerischen Buchhandlung; 1777.
[8] Ackermann JCB, Wenzel J.Ueber die körperliche Verschiedenheit des Mannes vom Weibe außer den Geschlechtstheilen. Koblenz: Johann Kaspar Huber; 1788.
[9] Skworzowa E. W ogne ne gorit: tschto stalo s unikalnoj Gotskoj bibliotekoj [Es brennt nicht im Feuer: was geschah mit der einzigartigen Gotha-Bibliothek]. Sobesednik. 29. März 2015;2015(11) [letzter Zugriff 15.03.2020]. Verfügbar unter: https://sobesednik.ru/rassledovanie/20150329-v-ogne-ne-gorit-chto-stalo-s-unikalnoy-gotskoy-bibliotekoy
[10] Paasch K. Entwicklungsgeschichte der Forschungsbibliothek Gotha. [letzter Zugriff 15.03.2020]. Verfügbar unter: https://www.uni-erfurt.de/forschungsbibliothek-gotha/bibliothek/ueber-uns/geschichte-der-bibliothek
[11] Jargin SV. Invasive procedures with questionable indications. Ann Med Surg (Lond). 2014 Dec;3(4):126-9. DOI: 10.1016/j.amsu.2014.06.003
[12] Cotran RS, Kumar V, Robbins SL. Robbins’ Pathologic Basis of Disease. Philadelphia: W.B. Saunders Co.; 1994.
[13] Serow VV, Palzew MA. Patologicheskaya Anatomia. Kurs lekzij [Pathologische Anatomie. Vorlesungsreihe]. Moskau: Medizina; 1998.